Miriam Gertz (2019). 'Der geheime Klub der abtreibungserfahrenen Frauen'. Leibliche und psychische Erfahrungen im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen als Dokument des sozialen Kampfes um die Geschlechterordnung.

Gegenstand der Arbeit sind Erfahrungen, die Frauen im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen machen. Es werden dabei insbesondere kollektive Dimensionen in den Blick genommen, um dem allgemeinen Diskurs über die ›Pathologie‹ und Betroffenheit Einzelner eine Perspektive entgegenzusetzen, die die gesellschaftliche Einbettung psychischer und leiblicher Erfahrungen konsequent berücksichtigt.

Untersucht werden Abtreibungserfahrungen und damit verknüfte Sinnstrukturen in Bezug auf ihre erfahrungsräumlichen Spezifika, d.h. in ihren geschlechts-, milieu- und generationsspezifischen Lagerun- gen. Die Analyseeinstellung, deren Ziel es ist, konjunktiv geteilte Orientierungs- und Erfahrungsmuster in ihrem sozialen Entstehungszusammenhang zu rekonstruieren, beruht auf einer feministisch informierten kulturpsychologischen Perspektive und der Methodologie der rekonstruktiv-qualitativen Sozialforschung. Die Erhebung von insgesamt sechs Fällen erfolgte anhand der Methoden der Gruppendiskussion und des narrativen Interviews. Ausgewertet wurde das daraus ausgewählte Material mittels der praxeologisch fundierten dokumentarischen Methode, die einen Zugang zu den impliziten Wissensbeständen der Befragten ermöglicht.

Die empirischen Ergebnisse zeigen im Wesentlichen, dass Schwangerschaftsabbrüche als reproduktive Ereignisse ein Schlüsselmoment der Manifestation des Geschlechterverhältnisses sind, da die reproduktive Differenz besonders spürbar wird. Die Linien des sozialen Kampfes um die Geschlechterordnung laufen dabei durch die Einzelnen hindurch; sowohl traditionelle Geschlechterideale, insbesondere das Mutterschaftsideal, als auch emanzipative Frauenbilder schreiben sich in die Psychen und Körper ein. Wie genau dieser gesellschaftliche Konflikt verarbeitet wird, unterscheidet sich jedoch. Drei Typen werden diesbezüglich aus dem Material rekonstruiert: Nämlich jene des (1) individualisierend-spiritua- listischen, (2) politisierend-materialistischen und des (3) politisierend-spiritualistischen Umgangs.

Auffällig ist, dass sich in allen erhobenen Fällen das Stigma-Management dokumentiert, das Frauen betreiben müssen, um nach Schwangerschaftsabbrüchen nicht diskreditiert und abgewertet zu werden. Bedingung für die Stigmatisierung ist, dass weibliche Sexualität im hierarchischen Geschlechterverhältnis als ausgerichtet auf Reproduktion innerhalb einer heterosexuellen Ehe und der Moral untergeordnet konstruiert wird. Frauen, die diese sozialen Normen durch lustorientierte Sexualität und ›selbstbestimmte‹ Familienplanung herausfordern, werden bestraft. In unserer Zeit geschieht dies typischerweise durch die –wissenschaftlich nicht haltbare – Prophezeiung psychischer Krisen.