Sandra Katzer (2014). Die „anderen Deutschen“. Subjektpositionen im Diskurs um den „Aufbau Ost“ – eine kritische Diskursanalyse.

(publiziert 2014 unter dem Titel Die „anderen Deutschen“. Eine kritische Diskursanalyse im LIT-Verlag)

Das Ende des sozialistischen Gesellschaftssystems und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten brachte umfangreiche Diskurse über die deutsche Einheit und über den damit verbundenen Transformationsprozess hervor, mit dem weitreichende soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen in den neuen Bundesländern einhergingen.

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Diskurs um den gesellschaftlichen Transformationsprozess in den Regionen der ehemaligen DDR, der als sogenannter Aufbau Ost bezeichnet wird anhand der Analyse der medialen Berichterstattung der Zeitschrift „DER SPIEGEL“. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei die diskursiven Formationen und Praktiken im Hinblick auf die Konstitution von Subjektpositionen.

Wie herausgearbeitet werden konnte, zeichnen sich die konstituierten Subjekte im Diskurs vor allem durch ein hierarchisches duales Verhältnis aus. Analog zum Kolonial- bzw. modernisierungstheoretisch geprägtem Entwicklungsdiskurs lässt sich eine binäre diskursive Grundstruktur identifizieren, die Vorstellungen vom armen, entwicklungsbedürftigen „Osten“ und dem modernen wohlhabenden „Westen“ impliziert. Der Diskurs erweist sich insofern als ein hegemonialer und entwertender, da hier über diskursive Konstruktionen des „Eigenen“ und „Fremden“ das „Eigene“, hier die bundesdeutsche Gesellschaft und die marktwirtschaftliche Ordnung, als höherwertiges Ideal, die Regionen und BewohnerInnen der ehemaligen DDR jedoch als „rückständig“ und „entwicklungsbedürftig“ repräsentiert werden. Der „Aufbau“ der neuen Bundesländer wird zum „Entwicklungsprojekt“ bei dem wirtschaftliche Prosperität und ein entsprechender Lebensstandard, durch die Unterstützung des „Westens“ und damit über Hilfe „von außen“ möglich werden soll. Die Regierung, im Sinne von Foucaults Konzept der Regierung als Führung, der diskursiv konstruierten „anderen Deutschen“ und deren Einbindung in marktgerichtete Prozesse und das bundesdeutsche Gesellschaftssystem vollzieht sich dabei über ein Subjektivierungsangebot, das diese anruft sich unternehmerisch zu verhalten und zum Unternehmer ihrer Selbst zu werden.

 

Geleitwort von Thomas Slunecko zur publizierten Fassung der Arbeit

Im Osten nichts Neues. Bemerkungen zu einer überfälligen Analyse der Propaganda zur deutschen Wiedervereinigung.

In Wien hat sich seit der Jahrtausendwende eine kulturpsychologische Denkschule entfaltet, aus der heraus dieses Buch inspiriert worden ist. Zumindest zwei zentrale Motive dieser Denkschule finden sich darin wieder: 

Zum einen ist unser Ansetzen von der von Foucault entwickelten Grundperspektive heraus inspiriert, will also kritisch reflektieren, wie sich Machtverhältnisse und wie sich Wissen  in aktuelle Formen von Subjektivierung so transponieren, dass die resultierenden Subjekte für den von diesen Verhältnissen aufgespannten Weltlauf brauchbar werden, d.h. wie diskursive Praktiken unsere Identitäten so konstituieren, unsere Ambitionsreaktoren so zünden, uns auf eine so spezifische Weise ‚anrufen‘, dass wir in diesen Weltlauf passen, ihm zuarbeiten, uns ihm nicht widersetzen. Und wie sich in diesem Durchlauf durch das Subjekt gleichzeitig die Weltverhältnisse stabilisieren und legitimieren. Mit Foucault fragen wir danach, wie diskursiv erzeugte Formen der Subjektivierung mit spezifischen Macht- bzw. ökonomischen Verhält­nis­sen verzahnt sind, wie wir zu wollen lernen, was uns an die Kandare nimmt, wie wir über die Einwilligung in Wissensbestände Selbstregimes errichten, die zu einem jeweiligen historischen Zeitpunkt herrschaftsgängig sind und uns zu beherrschbaren - im Zeitalter des späten Kapitalismus heißt das vor allem: zu wirtschaftlich brauchbaren - Subjekten machen. 

Ein anderes, damit zusammenhängendes Motiv, das in der Wiener Schule endemisch ist, liegt eher im Therapeutischen: es besteht in der Ermunterung, uns den eigenen Weg zu vergegenwärtigen, den wir durch die diskursive Maschinerie gegangen sind, d.h. uns den ‚semantischen Smog‘ zu vergegenwärtigen, an dem wir uns abarbeiten mussten und müssen. Ich nenne das ‚Beobachtungen auf der eigenen Spur‘ anstellen - Beobachtungen, die nicht aus einer sich selbst verkapselnden Selbstbespiegelung heraus unternommen werden, sondern um auf die Höhe der Auseinandersetzung zu kommen. Wer sich selbst auf die Spur gekommen ist, so ist die Hoffnung, wird auch aktuell mehr zu sagen haben. 

Den Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Fragens bei dem zu nehmen, was einem/r selbst begegnet ist, was eine/n selbst irritiert oder auch fasziniert, jedenfalls geprägt hat, bedeutet, methodologisch gesprochen, einen Bruch mit in der gegenwärtigen vorherrschenden Sozialisation in den Human- und Sozialwissenschaften. Angehende PsychologInnen und Sozialwissenschaftler­Innen lernen es heute zunächst und zumeist zu vermeiden, bei sich selbst mit dem Fragen zu beginnen und diese ins Wissenschaftliche zu ‚heben‘; sie kooperieren in aller Regel mit dieser, in sich natürlich wiederum ideologisch präformierten Vermeidungsstrategie, weil sie einen nicht unbeträchtlichen Krankheitsgewinn abwirft: sich nämlich  die Herausforderung zu ersparen, die darin besteht, die eigenen Fragen scharf werden zu lassen. Mit einem derartigen Rückzug auf die Perspektive des vermeintlich unbeteiligten Beobachters vergibt man sich bzw. der wissenschaftlichen Auseinandersetzung allerdings die große Chance, aus dem Nacherzählen der eigenen Irritation, aus der Reflexion des eigenen Bildungsromans den subjektiv zunächst immer als persönlichen (Un)Fähigkeiten und speziellen Zufälligkeiten geschuldet erscheinenden eigenen Ausgangspunkt und Weg ins Allgemeine zu heben und damit umfassendere Bedingungen seiner Möglichkeit erscheinen zu lassen.  

Kombiniert man die beiden Motive - das der Analyse von Machtverhältnissen und Diskursen und jenes der Vergegenwärtigung des eigenen Weges in diesen Verhältnissen - dann ist man schon nahe am Grundtenor dieses Buches. Die Autorin kommt darin auf jene Anrufungen zurück, mit denen sie in jungen Jahren relativ plötzlich konfrontiert worden ist, als 1990 mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland die Deutsche Vereinigung vollzogen wurde. Damit einher ging nicht nur die Übernahme des bundesdeutschen Institutionensystems durch die neuen Bundesländer und Ostberlin, sondern auch eine radikale mentale Umformatierung, die für die Autorin eine selbst erlebte Vergangenheit darstellt, mit der sie sich  im vorliegenden Text auseinander setzt. Es handelt sich dabei also um einen Selbstversuch in bester ­kritischer Tradition: Die Autorin nimmt den eigenen Werdegang ernst und destilliert aus dem, was auch ihr passiert ist, durch eine methodisch kontrollierte Bezugnahme Einsichten in die Weltlage, Einsichten, die auch für andere Bedeutung haben, insbesondere für jene, denen Ähnliches passiert ist. 

Im Zentrum Ihrer Auseinandersetzung steht die Art und Weise, wie jene Denk- und Verhaltensnormen, welchen die Menschen aus den neuen Bundesländern ab 1990 folgen sollten, diskursiv legitimiert wurden. Um dies zu identifizieren führt Frau Katzer vor dem Hintergrund eines viel ausgedehnteren Materialcorpus eine akribische Feinanalyse eines relativ langen, von ihr zurecht als besonders salient eingeschätzten Diskursfragments durch. Es handelt sich um einen zunächst in der Zeitschrift DER SPIEGEL, später auch in Buchform erschienenen Text von Klaus von Dohnanyi, einem der bekanntesten und langgedientesten deutschen Politiker, der nach der Wieder­vereinigung auch als Berater der Treuhandanstalt tätig war, über „Das deutsche Wagnis. Die Risiken der deutsch-deutschen Vereinigung“.  Mit Hilfe einer geschickt gewählten Kombination avancierter Analyseverfahren aus dem Reservoir der Kritischen Diskursanalyse exponiert die Autorin die Setzungen oder, wenn man so will, die Bösartigkeiten des neuen  Herrschaftswissens, die diesen Text anleiten. Besonders spannend und historisch einmalig dabei ist zu sehen, mit welcher Leichtigkeit Figuren des kolonialen Diskurses auf (inner)deutsche Verhältnisse umgelegt werden können. Denn analog zum kolonialen bzw. zum modernisierungstheoretisch geprägten Entwicklungsdiskurs lässt sich eine diskursive Grundstruktur exponieren, die auf der strengen Zweiteilung in ‚entwickelte‘ und ‚rückständige‘ Regionen bzw. deren BewohnerInnen beruht. Diese erscheinen als jeweils homogene, einander streng gegenübergestellte Gruppen, was eine Identifizierung der Verantwortlichen verhindert und ungleiche Machtverhältnisse verschleiert. Der Diskurs ist insofern hegemonial und entwertend, als das ‚Eigene‘, d.h. die wohlhabende bundesdeutsche Gesellschaft und ihre marktwirtschaftliche Ordnung, dem minderwertigen ‚Anderen‘, d.h. der als rückständig präsentierten ehemaligen DDR als Ideal vorgesetzt wird.  

Den Menschen werden in diesem Prozess entsprechende Rollen zugewiesen: vor allem werden sie angehalten, sich rational und ökonomisch zu verhalten. Dem Wachstumsimperativ inhärent ist ein spezifischer Subjektmodus, der an die unter­nehmerischen Qualitäten des Einzelnen appelliert. Eigen­verantwortung, Risikobereitschaft und Flexibilität sind die bevorzugten Persönlichkeitseigenschaften, an denen sich die neuen Bundesbürger ausrichten sollen, um im marktwirtschaftlichen System erfolgreich  zu sein und zum Wohlstand und ökonomischen Erfolg beizutragen. Wer in diesem System bestehen will, so die argumentative Logik, muss sich entsprechend optimieren und zum Unternehmer seiner selbst werden. Für Erfolg und Scheitern im Leben ist nun der Einzelne selbst verantwortlich, womit das Problem sozialer Chancengleichheit individualisiert und entpolitisiert wird.  

Der Leser oder die Leserin kann in diesem Buch sozusagen in Superzeitlupe dem neoliberalen high-jack-Manöver zusehen, mit dem sich die Bundesrepublik ihre rückständigen Genossen einverleibt hat. Im Namen der Freiheit sollen diese sich selbst endlich ‚richtig‘ an die Kandare nehmen. Es ist das besondere Geschick der Autorin, die dabei wirkmächtigen, im Rahmen des hege­monialen Diskurses kaum abweisbaren Figuren so zu exponieren und anzuheben, dass sie trotz all ihrer Einfachheit wieder erkenntnismäßig zu knistern beginnen. Es gelingt ihr überzeugend, zeitgenössische Texte zum sogenannten Aufbau Ost  als Instrumente einer Propaganda zu lesen, mittels derer bei Millionen neuer Bundesbürger Akzeptanz für eine ganz bestimmte Wahrheit und Weltsicht geschaffen werden sollte, die offensichtlich noch immer nicht die der Autorin ist. Der couragierten Arbeit ist zu wünschen, dass sie viele der ‚Betroffenen‘ erreicht, für die sie ein empowerment ersten Ranges darstellen kann. In diesem Sinn wünsche ich vergnügliche Lektüre, 

 

Thomas Slunecko