Karin Stadlbauer (2015) Hirngespinste. Über neuronale Wahrheiten psychischer Erkrankungen. Eine kritische Diskursanalyse.

Im Rahmen dieses Diplomprojekts steht der gegenwärtig vorherrschende, biologisch-neurowissenschaftliche Diskurs rund um die Erklärungen psychischer Erkrankungen im Fokus. Nach einer Auseinandersetzung mit biologischem Wissen im Feld der Psychologie im Allgemeinen und in dem der Klinischen Psychologie und Psychiatrie im Besonderen, folgt eine Beschäftigung mit diskurstheoretischen Ansätzen und den Überlegungen Foucaults zur Verbindung von Wissen und Macht. Vor diesem Hintergrund wird folgende Forschungsfrage leitend: Welche diskursiven Strategien der Neurowissenschaften in Bezug auf psychische Erkrankungen lassen sich aus dem vorliegenden Material rekonstruieren? Wie werden psychische Erkrankungen in biologisch-neurowissenschaftlichen Texten dargestellt? Wie wird dabei ‚Wahrheit‘ produziert und Glaubwürdigkeit hergestellt?

Zur Beantwortung der Fragestellung werden, an der Fakultät für Psychologie an der Universität Wien prüfungsrelevante, in erster Linie biologische Lehrbuchinhalte, im Rahmen derer psychische Erkrankungen behandelt werden, einer kritisch-diskursanalytischen Untersuchung unterzogen.

Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass der Vollzug des biologisch-neurowissenschaftlichen Narrativs abstrahiert und weit entfernt von Phänomenen des subjektiven Erlebens in einer Welt isolierter und biologisch anormalisierter Gehirne stattfindet. Daraus ergibt sich nicht nur eine Distanzierung von einem Erlebten und Gelebten, sondern auch eine De-Kontextualisierung und Individualisierung umfassender, weitläufiger Phänomene in die Sphäre der Biologie des einzelnen Individuums. Dies entfaltet sich in einem, als naturwissenschaftlich-biologisch gerahmten Expertendiskurs, wobei dem diskursiven Einsatz von Hirnbildlichkeiten eine entscheidende, ‚wahrheitsverleihende‘ Funktion zukommt. Der untersuchte Diskurs wird als einziger als Diskurs der ‚Wahrheit‘ zugelassen, während alternative Diskurse inkorporiert oder überhaupt ausgelassen werden. An der Untersuchung des biologisch-neurowissenschaftlichen Diskurses über psychische Erkrankungen soll beispielhaft die zentrale Rolle von biologischen Wissensformationen im Macht-Wissen-Komplex im Feld der Psychologie aufgezeigt werden.

 

Detaillierte inhaltliche Beschreibung

Die Autorin nimmt die aktuelle Debatte über die fünfte Auflage des verbreiteten Klassifika­tions­manuals DSM, zum Anlass, sich über die Deutungshoheit bezüglich psychi(atri)scher Erkrankungen Gedanken zu machen. Sie ortet nach einer anti-psychoanalytischen bzw. pro-biomedizinischen Wende, die sich schon in die dritte Auflage des DSM eingeschrieben hat, nun einen starken Zug zu einem aus ihrer Sicht reduktionistischen rein neurowissenschaftlichen  Modell, ein ‚neurological turn‘, der die von kritisch-psychologischer Seite beklagte Dekontextualisierung psychischer Erkrankungen weiter vorantreibt. Eine rein auf bio­logischen Markern und auf Bildgebung basierende Diagnostik, die dann wohl auch die neo-Kraepelinsche Diagnostik mit ihren auf Symptomen basierenden kate­go­rischen Einteilungen hinter sich lassen würde, ist zwar noch nicht Realität, aber als Wunschbild bereits spürbar.

Karin Stadlbauer will sich also mit dem umkämpften Terrain der Erklärungs­versuche psychischer Erkrankungen auseinandersetzen, insbesondere mit dem für sie irri­tier­en­den Übergriff der Neurowissenschaften auf dieses Feld. Ihr konkreter Unter­suchungs­gegen­stand ist der heute überwiegend an der Schnittstelle zwischen klinischer und biologischer Psychologie angesiedelte Lehrbuch-Diskurs bezüglich psychischer Erkrankungen. Sie fragt danach, wie dort der neurobiologische Rahmen bei der Erklärung und Diagnose psychischer Erkrankungen gespannt, wie der Diskurs rund um die neurobiologische Wissensproduktion aufgebaut wird, wie dieses so erfolgreiche, wie bescheidene Narrativ gestaltet ist, im Zuge dessen psychische Erkrankungen in erster Linie als Erkrankungen des Gehirns konstruiert werden. 

Bei ihrer theoretischen Annäherung thematisiert die Autorin die privilegierte Position biologischen Wissens auf dem Feld der akademischen Psychologie zunächst all­gemein, dann fokussiert auf die Klinischen Psychologie. Aus einer historischen Per­spektive heraus werden epistemologische Voraussetzungen des biologisch-neuro­wissenschaftlichen Zugangs in der Erklärung psychischer Phänomene verdeutlicht. Eine entscheidende Rolle kommt hier der Idee einer Lokalisation sowie der Sicht­barmachung psychischer Phänomene zu, weshalb den Praktiken des Neuroimaging und den daraus resultierenden Bildlichkeiten ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Den Theorieteil beschließt ein Kapitel, in dem mögliche Folgen und Implikationen einer biologischen Sichtweise auf psychische oder soziale Phänomene überblickshaft dargestellt werden – damit sind auch schon erste Orientierungslinien für die empirische Analyse gezogen.

Der Methodenteil der Arbeit orientiert sich metatheoretisch an Foucaults Kon­zeptionen von Wahrheit, Macht und Wissen, bezüglich der konkret durch­geführten Analyseschritte an der kritischen Diskursanalyse nach Jäger und an der Wiener diskursanalytischen Schule um Wodak & Reisigl bzw., was die Bildanalyse betrifft, an Meier. All dies wird im sechsten Kapitel konzise entwickelt.

Auf dieser Basis wird im dritten, dem empirischen Teil der Arbeit zunächst der Forschungs­prozess von seiner theoretischen Ausgangslage bis hin zur Entwicklung und Zuspitzung des konkreten Erkenntnisinteresses nachgezeichnet. Dieses besteht im Kern darin, die diskursiven Strategien der Neurowissenschaften in Bezug auf psychi­sche Erkrankungen zu rekonstruieren: Wie werden psychische Er­krankungen in biologisch-neuro­wissen­schaftlichen Lehrbuchtexten dargestellt? Wie wird dabei ‚Wahrheit‘ produziert und Glaubwürdigkeit hergestellt?

Darauffolgend werden Charakteristika des Untersuchungsmaterials sowie das Vor­gehen be­züg­­lich der Generierung des Korpusmaterials besprochen und kritisch re­flek­tiert. Den Korpus bilden zwei Lehrbücher der Klinischen Psychologie mit stark neuro­wissenschaftlicher Aus­richtung sowie 17 Lehrbücher der Biologischen oder Neuropsychologie, die auch explizit auch über psychische Erkrankungen handeln (die Bücher sind zwischen 2004 und 2011 er­schienen). Die lege artis durchgeführte kritische Diskursanalyse beginnt mit einer Kontext­analyse, mit deren Hilfe das ana­lysierte Diskursfragment in seinen historisch-sozialen sowie institutionellen und situativen Kontexten verständlich wird. Die darauf folgende Struktur­analyse erlaubt einen Überblick über die qualitative und quantitative Bandbreite des interes­sierenden Diskurses und begründet die Auswahl des Fragments für die detaillierte Feinanalyse. 

Auf der Basis dieser Strukturanalyse, nicht zuletzt der Analyse der darin vorfindlichen Bildlichkeit, wird die Entscheidung für die Feinanalyse eines den Dis- und Viskurs besonders gut repräsentierenden Buches getroffen: „Neurowissenschaften – Ein grundlegendes Lehr­buch für Biologie, Medizin und Psychologie“ (im Original in den USA im Jahre 2006 unter dem Titel „Neuroscience – Exploring the Brain“ erschienen) von Mark Bear, Barry Connors und Michael Paradiso; keiner der Autoren hat eine psychologische  Grundausbildung. 

Die Feinanalyse beginnt mit einer Untersuchung der Textoberfläche des Kapitels „Psychische Erkrankungen“ des eben genannten Buches. Einzelne Passagen daraus werden dann hinsichtlich der verwendeten rhetorischen Mittel, Topoi und Argu­men­tationsstrategien in der für die Diskursanalyse typischen ‚Superzeitlupe‘ aufbereitet. Die ergänzenden bildanalytischen Überlegungen tragen dazu beitragen, rhetorische Strategien auch auf einer visuellen Ebene offenzulegen bzw. Aufschluss über Effekte zwischen Text und Bild zu geben. Aufgrund des inflationären Einsatzes von Bild­lichkeiten im interessierenden Diskurs ist deren systematische Einbeziehung in die Untersuchung mehr als angebracht.

Fazit: Karin Stadlbauer schließt mit Ihrer auch formal ausgezeichnet gestalteten Arbeit an Ergebnisse aus den letzten Jahren an, in denen die Doxa psychologischer Lehrbücher unter diskursanalytischen Perspektiven schon mehrfach reflektiert wor­den ist, und ergänzt diese Arbeiten um einen aktuellen und gut gewählten inhalt­lichen Aspekt. Gut ge­wählt deswegen, weil der aufstrebende, ja eigentlich mittler­weile bereits hege­moniale neurowissenschaftliche Diskus zu psychischen Erkran­kungen – ein Diskurs, der Schaltkreise behandeln will und nicht Menschen – beson­ders stark mit älteren An­sätzen, aber auch mit lebensweltlichen Vorerfahrungen und Annahmen über psychische Erkrankungen bricht. Die darin ubiquitäre Rede von den neuronalen Korrelaten psychischer Erkrankung stellt für die Autorin letztlich eine Anrufung zur Entfremdung von subjektiver Erfahrung dar, die neben der ‚wahren Biologie‘ zu einer vernachlässigbaren Größe wird. Das Bild der psychischen Erkran­kung wird so zu einer a-temporalen und unpersönlichen, ganz und gar asozialen (weil nur im Individuum, genauer: in dessen Gehirn verorteten) Angelegenheit – nur in dieser Form passt es offenbar in den Weltlauf.

Wie genau geschieht das? Durch eine fast inflationäre Verwendung von Verbal­sub­stantiven – Steuern, Kontrollieren, etc.– wird eine subjektiv bedeutsame, von Men­schen erlebte Situation, jene einer ‚psychischem Erkrankung‘ zunächst alternativ als abstrahierter, objektivierbarer und mittels natur­wissenschaftlicher Termini be­schreib­barer Ablauf konstruiert. Als zweiter Schritt folgt eine, für diese abstrahierte Art der Beschreibung ‚notwendige‘ Bekanntmachung mit einer Fülle an neuen episte­mischen Objekten; nur diese treten in der Folge als AkteurInnen auf. So wird dem Hypo­thalamus zugeschrieben, Reaktionen kontrollieren zu können, das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindensystem wird als Antworten vermittelnd konstruiert, Neuronen sondern Hormone ab, Amygdala und Hippocampus bekommen regulatorische Handlungsfähigkeiten zugesprochen. Als derart mit quasi-intentionaler Handlungsmacht ausgestattete AkteurInnen grenzen die biologischen Konstrukte den biologischen Raum ab, innerhalb dem Phänomene unter Auslassung eines unmittelbaren und ereignishaften, subjektiv Sinnhaften diskutiert und erklärt werden können. Den Bildern kommt dabei entscheidende Enthüllungs- und Verifizierungs­­funktion zu. Und wo sich keine erlebenden Subjekte mehr aufhalten, dort gibt es auch keinen Platz mehr für ein erfahrendes Sein oder einer empathischen Teil­nahme, nur mehr ein empfindungsleeres Sprechen entspricht der so konstruierten Lage bzw. Welt die, um mit der Autorin zu sprechen, „vollgestellt mit empfindungs- und erfahrungslosen, mechanisch-automatisiert funktionierenden biologischen Erkenntnisobjekten … keinen Raum für sinnhafte Auffassungen eines subjektiven Erlebens zur Verfügung hat“.

Auch methodisch ist die Arbeit infolge der von Untersuchungsfokus her nicht abzu­weisenden Ergänzung um eine Analyse der Bildlichkeit interessant gelagert, ertrag­reich und zukunftsweisend. Visualisierungsstrategien spielen bei der neuro­wissen­schaftlichen ‚Kolonisation‘ des Feldes der psychischen Erkrankungen offenbar eine wesentliche Rolle, ihrer im Detail nicht nachvollziehbaren technoiden Objek­tivität kann ein/e nicht mit allen dekonstruktivistischen Wassern gewaschener Studierende/r kaum etwas entgegen halten. Die Zurückweisung neurowissen­schaftlicher Über­griffe muss daher eine Zurückweisung bzw. Kritik der Bilder ­– der Hirnscans, schematischen Darstellungen von Hirnen oder Abläufen im Gehirn bzw. der anatomischen Darstellungen zur Lokalisierung von Gehirnstrukturen – als jenen Wahrheitsproduzenten mit beinhalten, die zu einem derart unpersönlichen, vermeintlich objektiven Sprechen über psychische Erkrankungen ‚überreden‘. Der Bildtopos wir in diesem Genre jedenfalls zum entscheidenden Autoritätstopos.

Karin Stadlbauer hat also in einer sorgfältig geführten Aus­einandersetzung eine sehr grundsätzliche Aufgabe in einer produktiven Weise gelöst. Es gelingt ihr über­zeu­gend, die Lehrbücher ihres Studiums als Instrumente und Ergeb­nisse einer be­stimm­ten Art von ‚Psychopolitik‘ zu lesen und zu zeigen, mit welchen diskursiven Mitteln bei angehenden PsychologInnen Akzeptanz für eine ganz bestimmte ‚Wahrheit‘ über psychische Erkrankungen geschaffen wird, die nicht die ihre ist. Bei all dem  ist sie als Autorin und Betroffene gut spürbar, ohne sich in irgendeiner Weise in den Vordergrund zu drängen. Das methodische Instru­mentarium hat sie sich gut ange­eignet und kann es auf eine Weise einsetzen, die auch einem/r nicht vorein­ge­dachten Leser/in einen Eindruck vom Potential kritisch-diskurs­analytischer Per­spek­tivierung ermöglicht. Insofern bleibt zu hoffen, dass die Botschaft auch diejenigen erreicht, die sie eigentlich hören sollten: all jene, die den Verzauberungen der neurowissenschaftlichen Propaganda bisher kritiklos erlegen sind.