Franziska Merhof (2016). Raum und Atmosphäre im Kontext Psychiatrie. Ein mehrstimmiger Durchgang über eine akutpsychiatrische Station des Berliner St. Hedwig-Krankenhauses.

Die Psychiatrie ist der Ort, an dem Stimmungen bzw. genauer: Verstimmungen professionell behandelt werden sollen. Dabei liegt der therapeutische Fokus, im Einklang mit einem vornehmlich biologisch orientierten Krankheitsverständnis, auf der medikamentösen Einstellung der PatientInnen. Nur selten wird bedacht, dass auch die unmittelbare Umgebung entscheidenden Einfluss auf das Befinden von Menschen in der Psychiatrie hat.

Das Berliner St. Hedwig-Krankenhaus versucht daher im Zuge eines Umbauprojekts der allgemeinpsychiatrischen Stationen dem Wirkfaktor „Atmosphäre“ Rechnung zu tragen. Ziel der Umgestaltungsplanung ist es, Räume zu schaffen, die das Wohlbefinden der PatientInnen und MitarbeiterInnen fördern und Heilung ermöglichen. In diesem Kontext entstand die vorliegende Arbeit.

Um herauszufinden, wie die Atmosphäre der Psychiatrie am St. Hedwig-Krankenhaus erlebt wird, wurde das subjektive Befinden von Menschen direkt vor Ort, auf einer ausgewählten Station, erhoben. Dazu wurde eine noch wenig erprobte qualitative Forschungsmethode angewendet: der „Parcours Commenté“ nach J. P. Thibaud (2001). Es handelt sich dabei um ein in-situ Verfahren, also eine Art „bewegtes Interview“ im Feld. In 13 „Spaziergängen“ über besagte Station, sowohl mit MitarbeiterInnen der Klinik als auch mit einem ehemaligen Patienten sowie mit Menschen, die keinen Bezug zur Institution Psychiatrie haben, ging es darum, dem Zusammenhang von räumlicher Umgebung und subjektiver Gestimmtheit- kurz: der Atmosphäre- auf die Spur zu kommen. Obwohl Atmosphären ohne Zweifel Bestandteile alltäglicher Lebenswirklichkeit sind, wurde ihnen innerhalb humanwissenschaftlicher Diskurse bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht zuletzt die begriffliche Unschärfe und die Schwierigkeiten, die sich beim Versuch ergeben, Atmosphären zu operationalisieren, tragen zu dieser empirischen Forschungslücke bei. Es ist daher auch ein Anliegen dieser Arbeit, den Parcours Commenté als einen gangbaren Weg zur Erforschung von Atmosphären zu erproben.

Die Ergebnisse der Parcours wurden zu einem „mehrstimmigen Durchgang“ zusammengefasst, der einen vielschichtigen Eindruck der Stationsräumlichkeiten liefert und mit seinen zahlreichen Bezügen auf konkrete Umgebungsfaktoren wertvolle Hinweise für die Umgestaltung enthält.

 

Detailliertere inhaltliche Beschreibung

Zu ihrem Zentralbegriff der Atmosphäre lässt sich die Autorin von den dazu wohl einschlägigsten und auch avanciertesten Quellen inspirieren: von der Neuen Phänomenologie des Hermann Schmitz und den Arbeiten Gernot Böhmes, die Schmitz’ weniger zugängliches Werk aufbereitet haben. Diese einleitenden metatheoretischen Arbeitsschritte gelingen der Autorin außerordentlich gut, ebenso  - mit den Psychiatern Tellenbach, Kimura und Straus - die Übertragung und Fokussierung des Atmosphärendenkens auf jenen Kontext, der Sie hier speziell interessiert: die Psychiatrie.  Diese im Rahmen eines Diplomprojektes sehr gründliche Begriffsarbeit ist für die Autorin die Basis für eine empirische Erforschung von Atmosphären, bei der sie v.a. auf drei Aspekte eingehen will: auf die Räumlichkeit des Atmosphärischen, auf den Leib als Resonanzkörper beim Spüren des Atmosphärischen und auf die Situativität dieses Vorgangs, d.h. die Einbettung des Atmosphärischen in konkrete Situationen.

Ein eigenes, ebenfalls hervorragend gelungenes Kapitel widmet Franziska Merhof den Schwierigkeiten der Versprachlichung des Atmosphärischen. Sie zeigt sich hier des  Um­standes bewusst, dass atmosphärisches Erleben und Versprachlichung eng zusammenhängen: dass ersteres von rationalistischer sprachlicher Bezugnahme schnell zerstört werden, andererseits aber auch mit geeigneten sprachlichen Mitteln evoziert werden kann. Das kulturelle Training in einer Rationalitätskultur wie der unseren läuft allerdings in aller Regel darauf hinaus, dass wir dasjenige, was wir mit größter Sicherheit spüren, nur unter größter Unsicherheit und meist etwas verlegen zu äußern vermögen – ein Umstand, der in Hinblick auf die empirischen Ambitionen des Projektes (vgl. unten) natürlich bedacht werden will.

Das method(olog)ische Grundproblem der Arbeit besteht darin, dass die Autorin etwas über das Entstehen und Wirken von Atmosphären anhand der Erlebnisschilderungen atmosphärisch ergriffener Subjekte erfahren will. Um dabei forschungslogisch nicht – gegen die geschilderten phänomenologischen Inspirationen – dem ‚subjektiven Sinn‘ auf dem Leim zu gehen, also dem, was Subjekte über sich und ihr Erleben nachträglich zu wissen meinen, orientiert sich Franziska Merhof bei der empirischen Erhebung an dem von Thibaud ent­wickelten „Parcours Commenté“, einem in situ Verfahren, bei dem die Atmosphäre nicht retrospektiv, sondern unmittelbar am Ort ihres Wirkens und direkt aus dem Erlebensprozess heraus beschrieben wird. Sie geht mit ihren Interviewpartnern einzeln  durch die beforschte psychiatrische Station und fasst ihre ‚Spazier­gängerInnen‘ dabei wie  Resonanzkörpern auf, die durch die die Atmosphäre(n) der Station in je spezifischer Weise zum Klingen gebracht werden. Forschende und Beforschte bzw. Spazierende begehen also eine zuvor grob abgesteckte Route durch den  semi-öffentlichen Raum der Station. Die Spazierenden werden darum gebeten, ihre Wahrnehmungen und Empfindungen detailliert und ungefiltert mitzuteilen und darauf hingewiesen, dass sie dabei auf alle sinnlichen Eindrücke (visuell, akustisch, taktil, olfaktorisch etc.) eingehen können. Aufgabe der forschenden Person ist es, die Spazierenden aufmerksam und zurückhaltend zu begleiten, bei Schwierigkeiten der Verbalisierung die Beschreibungen durch (immanente) Fragen anzuregen, bzw. zu vertiefen und Unklarheiten zu explizieren. Der genaue Weg, die Entscheidung für mögliches Verweilen oder Umkehren bleibt den Spazierenden überlassen – ein avanciertes Verfahren, das sich überzeugend anhört, in der praktischen Durchführung allerdings mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten (z.B. plötzliche Ausnahmesituationen, Nichtbetretbarkeit von Räumen etc., störende Anrufe, Interventionen von Patientinnen) verbunden ist und die Autorin, die noch wenig Erfahrung bezüglich qualitativem Erheben hat, vor erhebliche Probleme stellte.  

Hauptziel des empirischen Teils des Forschungsvorhabens ist eine auf solchem Weg ge­won­nene Be­schrei­bung des atmosphärischen Status Quo einer psychia­tri­schen Station des Berliner Sankt-Hedwig-Krankenhauses, die, in Zusammen­arbeit mit Architekten und Psychiatern, einer Umgestaltung dieser und ev. auch anderer Stationen des Krankenhauses als Grundlage dienen soll. Franziska Merhof unternimmt dazu mit 13 Personen[1] kommentierte Spaziergänge durch die Station, zeichnet die Gespräche auf und setzt acht davon zu einem „vielstimmigen Durchgang“ im Sinne Thibauds zusammen, in dem sie atmo­sphärische Charakteristika der Räum­lich­keiten anhand wiederkehrender Motive in den Parcours-Schilderungen heraus­arbeitet, um auf diese Weise Hinweise für (innen-)architek­tonische Veränderungen zu gewinnen. Von daher ist es sehr sinnvoll, das Material, so wie es hier geschieht, anhand der Aussagen zu den einzelnen Räumlichkeiten der Station zu strukturieren und nicht entlang einzelner Spaziergängerinnen darzustellen. 

Hinter der Anerkennung von räumlichen Atmosphären als stimmungswirksamen Phänomenen steht eine Utopie: Franziska Merhof imaginiert eine Psychiatrie, die mit Atmo­sphä­ren vertraut ist und daher weiß, dass Patienten und Therapeuten von diesen affektiv betroffen und leiblich ergriffen werden; dass Räume unser Befinden stimmen, uns ängstigen oder  beruhigen und mit Signaturen ausgestattet sind, die es uns ermög­lichen, uns auf eine bestimmte Art zu erfahren. Eine Psychiatrie, in der Ärzte und Pflegende in einer Art ästhetischer Arbeit sich auf atmosphärische Bedingungen von Heilung konzentrieren würden – Vorstellungen, die für den im Regelbetrieb der Psychiatrie tatsächlich utopisch anmuten, in der von Luc Ciompi konzipierten Soteria-Bewegung, an der die Autorin Maß nimmt, aber schon ansatzweise verwirklicht sind. Die Autorin wollte diese Vorstellungen in ihrem Projekt empirisch aufladen und die Ergebnisse in ein konkretes Umsetzungsprojekt einfließen lassen. Dabei hat sie sich insgesamt viel zugemutet: eine ungeheuer vielversprechende theoretische Begriffsarbeit sowie eine innovative, aber bislang wenig erprobte und wenig dokumentierte empirische Methode; bei der vom Zeitdruck des auslaufenden Diplomstudium zusätzlich belasteten Auswertung muss sie daher einige Abstriche in Kauf nehmen: der "mehrstimmige Durchgang" klingt ihr für manche Stellen der Station eher nach Kakophonie, d.h. die Atmosphäre-Beschreibungen lassen sich nicht überall sinnvoll verdichten. Franziska Merhof fokussiert ihre Auswertung daher letztlich auf den Eingang und drei Räume (Flur, Gruppen- und Speiseraum) und die darin vorkommenden ‚Präsenzen‘ (z.B. Fliesen, Vertäfelung, Licht, Aquarium, Mobiliar, Bilder); forschungsökonomische Gründe spielen bei dieser exemplarischen Auswertung des insgesamt recht umfangreichen Material ebenfalls eine Rolle (die im Anschluss an die einzelnen Spa­zier­gänge geführten Reflexionsgespräche fließen z.B. überhaupt nicht in die Auswertung ein). 

Über diese nicht ganz umfassende Auswertung ist die Autorin selbst ein wenig enttäuscht  und verschweigt diesen Umstand keineswegs. Überhaupt zeigt ihre abschließende Manöver­kritik eine bemerkenswerte Reflexionsfähigkeit bezüglich des eigenen Vorgehens und ein klaren Blick auf einen ‚next step of excellence‘ bei einer Fortsetzung dieses oder bei einem ähnlich gelagerten Projekt, bei dem ihr auch eine bessere institutionelle Einbindung zu wünschen wäre. Trotzdem lassen sich auch aus dem vorliegenden Projekt markante architektonische und ästhetische Lieblosigkeiten klar benennen und werden damit konkreter Veränderung zugänglich. Neben den genannten außergewöhnlichen theoretischen und method(olog)ischen Ambitionen, ist also auch das  anwendungsorientierte Ergebnis gegeben. 


[1] Die meisten TeilnehmerInnen kamen aus Workshops, die im Zuge der Umgestaltung der Station durchgeührt wurden (ÄrztInnen, PflegerInnen und eine Ergotherapeutin), zwei waren ehemalige PatientInnen. Sie wurden vom Chefarzt der Psychiatrie per email angesprochen – eine Strategie, die Tücken hat und jedenfalls keinem theoretischen Sampling entspricht. Erst gegen Ende spazierten im Sinn eines theoretisch geleiteten Kontrastes auch drei  Menschen ohne persönlichen Bezug zu (dieser) Psychiatrie mit Franziska Merhof. Die Vermutung, dass kommentierte Spaziergänge mit Personen, für die die Räumlichkeiten der Station völlig unbekannt sind, nicht so sehr von Theoretisierungen durch­drun­gen sind und eine der Neuartigkeit der Situation zuzurechnende größere Vielfalt an Eindrücken bieten, konnte sich dabei bestätigen. Dazu hat sicher beigetragen, dass kunst-affine Personen aus­gewählt wur­den, von denen anzunehmen war, dass sie eine besondere Sensibilität für atmo­sphärische Eindrücke mitbringen würden. Bedauerlich bleibt der Umstand, dass die psychiatrischen Patientinnen selbst so relativ wenig zu Wort gekommen sind.