Elisabeth Parzer (2016). »Mehr als nur Verhütung«. Eine rekonstruktive Analyse der Verhütungspraxis von Frauen.

Gegenstand der Untersuchung ist die Verhütungspraxis von Frauen. Es wird der Frage nachgegangen, welche kollektiven Bedeutungsmuster diese Praxis strukturieren und inwiefern sich dabei Unterschiede entlang bildungsmilieuspezifischer Erfahrungskontexte zeigen. Den Ausgangspunkt für diese Fragestellungen bildet die Unzulänglichkeit aktueller medizinischer und sexualpädagogischer Erklärungsversuche, die zumeist auf individuelle Faktoren beschränkt bleiben. Meistens werden Persönlichkeitsmerkmale der Frau und ein Defizit an faktischem Wissen als Ursachen für die als zu hoch geltende Zahl ungeplanter Schwangerschaften in Betracht gezogen – und das nicht selten mit einem belehrenden und anklagenden Gestus jenen Frauen gegenüber, die ihr Verhütungshandeln nicht entlang der als rational und korrekt geltenden, konsequenten Anwendung wirksamer Verhütungsmethoden orientieren.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als Anstoß zur Reflexion gegenwärtiger medizinischer und sexualpädagogischer Praxis, indem sie insbesondere der Kontextgebundenheit des Verhütungshandelns Rechnung trägt. Eine praxeologisch fundierte kulturpsychologische Perspektive bezieht den sozialen Entstehungszusammenhang von Handlungen mit ein und legt eine Haltung jenseits der Beurteilung von Verhütungsweisen nach normativen Maßstäben nahe.

Die Materialgrundlage bilden Gruppendiskussionen mit Frauen. Die Auswertung erfolgte mit der dokumentarischen Methode, einem Interpretationsverfahren der rekonstruktiven Sozialforschung, mit dem ein Zugang zu den impliziten Wissensbestände und überindividuellen handlungsleitenden Bedeutungsstrukturen ermöglicht wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass Verhütung ein wichtiges Symbol zur Aushandlung von Geschlechterverhältnissen und auch zur Bestimmung von Nähe- und Distanzverhältnissen zu Partnern darstellt und damit in seiner Bedeutung weit über den Schutz vor einer Schwangerschaft oder einer Krankheit hinausgeht. Des Weiteren erweist sich die Orientierung am Ideal einer rationalen Wahl vs. an der Schicksalshaftigkeit des Lebens als maßgeblich für das Verhütungshandeln. Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass Hormonen nicht nur als Gefährdung von Gesundheit, sondern auch als Bedrohung körperlicher Authentizität wesentliche handlungsleitende Bedeutung zukommt. Auf Basis dieser Befunde lässt sich festhalten, dass Verhütungshandeln nicht alleine auf faktisches Wissen und/oder Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen ist, sondern als soziale Praxis in ein vielfältiges Netz kollektiver Orientierungen eingebettet ist. Dessen Einbeziehung leistet einen maßgeblichen Beitrag zu einem vertiefenden Verständnis des Verhütungshandelns von Frauen.

 

Detailliertere inhaltliche Beschreibung

Elisabeth Parzer rekonstruiert in dieser von Julia Riegler mitbetreuten Arbeit zunächst die Entstehung ihres Forschungsinteresses und beschreibt dann in einer ausführlichen Einleitung den Ausgangspunkt ihrer Fragestellung und das Anliegen, das sie mit ihrer Untersuchung verfolgt: Die gegen­wärtig vorherrschende medizinische und sexualpädagogische (Forschungs-)Praxis zum Thema Verhütung zielt darauf ab, Verhütungshandeln mit individual­psycho­logischen Faktoren zu erklären. Meistens werden dabei Persönlichkeitsmerkmale der Frau und ein Defizit an faktischem Wissen als Ursachen für die als zu hoch geltende Zahl ungeplanter Schwangerschaften in Betracht gezogen – eine Herangehensweise, welche die Autorin gleichermaßen als unzulänglich wie in Hinblick auf deren Implikationen als problematisch erachtet. So bleibt zum einen der Kontext außer Acht, innerhalb dessen sich Verhütungshandeln vollzieht. Zum anderen geht damit nicht selten ein belehrend- anklagender Gestus einher, wenn Frauen ihr Verhütungshandeln nicht entlang der als rational und korrekt geltenden konsequenten Anwendung wirksamer Verhütungs­methoden orientieren. Vor diesem Hintergrund versteht Frau Parzer ihre Arbeit als Anstoß zur Reflexion der gegenwärtigen dominanten medizinischen und sexual­päda­go­gischen Praxis, indem sie besonders der Kontextgebundenheit des Verhütungshandelns Rechnung trägt. Sie geht also der Frage nach, welche kollektiven Sinn- und Bedeutungs­muster die Verhütungspraxis von Frauen strukturieren und inwiefern sich dabei Unterschiede entlang bildungsmilieuspezifischer Erfahrungs­kontexte zeigen.

Als metatheoretischer und methodologischer Rahmen für die Beantwortung dieser Fragestellung dient Elisabeth Parzer, wie sie in Kapitel 2 darlegt, eine praxeologisch fundierte kulturpsychologische Perspektive, die sich vor allem auf Pierre Bourdieus Habitustheorie sowie die Methodologie der dokumentarischen Methode beruft. Die so genannte ›genetische‹ Analyseeinstellung, die mit diesen metatheoretischen Per­spek­tiven verbunden ist, fragt nach dem sozialen Entstehungszusammenhang von Hand­lungen bzw. Handlungsorientierungen und suspendiert dabei die für die Alltags­kommunikation typischen Geltungsansprüche. Somit geht mit der Übernahme dieser Forschungsperspektive ein bewusster Verzicht auf die Beurteilung von bestimmen Verhütungsweisen entlang normativer Maßstäbe einher. 

Die forschungspraktische Umsetzung dieses Forschungsvorhabens erläutert die Autorin in Kapitel 3. Zur Erhebung ihres empirischen Materials wählt sie das Gruppen­diskussionsverfahren; die Auswertung dieses Materials erfolgt mit­tels der dokumen­tarischen Methode, einem interpretativen Verfahren aus dem Spek­trum rekonstruktiver Sozialforschung, mit dem ein Zugang zu den impliziten Wissens­beständen und kollektiven handlungsleitenden Bedeutungsstrukturen möglich wird. Insgesamt führt sie zwölf Gruppendiskussionen, von denen sie sechs  detailliert interpretiert. 

Einen noch genaueren Einblick in die Umsetzung von Erhebung und Auswertung gibt Kapitel 4, das der detaillierten und anschaulichen Darstellung der einzelnen Fälle gewidmet ist und einen intersubjektiven Nachvollzug des methodischen Vorgehens und der produzierten Ergebnisse gewährleistet. Die Analyse wird dabei durchwegs nahe am Material entwickelt und durch entsprechende Transkriptausschnitte belegt. Kritisch anzumerken ist hier lediglich, dass der Text durch stärkere Straffung und Verdichtung an Lesbarkeit und Prägnanz noch gewinnen hätte können. So entsteht bei der Lektüre gelegentlich der Eindruck, der Analyse gewissermaßen ›in Echtzeit‹ zu folgen, ohne immer Klarheit darüber zu haben, wohin der Text genau will. Diese kleine Schwäche wird allerdings durch die Zusammenfassungen am Ende der Falldarstellungen ausreichend abgefedert.

Die Zusammenschau der Ergebnisse in Kapitel 5 zeigt, dass Verhütung ein Handlungsfeld darstellt, in dem die Aushandlung von Geschlechterverhältnissen und auch die Bestimmung von Nähe- und Distanzverhältnissen innerhalb von Partnerschaften zentrale Rollen spielen. Die Bedeutung von Verhütung geht mithin weit über die eines Schutzes vor einer Schwangerschaft oder einer Krankheit hinaus. Des Weiteren argumentiert Elisabeth Parzer, dass sich die »Orientierung am Ideal einer rationalen Wahl vs. an der Schicksalshaftigkeit des Lebens« als maßgeblich für das Verhütungs­handeln von Frauen erweist. Darüber hinaus arbeitet sie heraus, dass Hormonen (bzw. dem Diskurs rund um hormonelle Verhütungsmethoden) nicht nur in Hinblick auf die ihnen zuge­schriebene gesundheitsgefährdende Wirkung, sondern auch als »Bedrohung körperlicher Authentizität« wesentliche handlungsleitende Bedeutung zukommt. 

Auf Basis dieser Befunde kann sie eindrucksvoll zeigen, dass Verhütungshandeln nicht alleine auf ›faktisches‹ Wissen und/oder Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen ist, sondern dass sie als soziale Praxis in ein vielfältiges Netz kollektiver Orientierungen eingebettet ist. Damit leistet sie einen maßgeblichen Beitrag zu einem komplexeren Verständnis des Verhütungshandelns von Frauen und ermöglicht eine Haltung, die nicht über unterschiedliche Verhütungsweisen entlang externer Kriterien urteilt, sondern versucht, sie in ihrer Entstehung nachzuvollziehen und anzuerkennen - eine Haltung, die für die medizinische und sexualpädagogische Forschungs- und Beratungspraxis hochrelevant ist bzw. diese herausfordert.