Daniela Pertl (2012). Im ‚Stimmenwirrwarr‘ von Krankheits- und Normalitätsdiskursen. Eine Dekonstruktion narrativer Selbstdarstellungen von Menschen, die Stimmen hören.

Menschen, die von der Dominanzgesellschaft pathologisiert werden, verfügen zumeist nicht über intelligibile Subjektpositionen und das symbolische Kapital, um ihren Aussagen Gewicht zu verleihen und ‚gehört‘ zu werden. Immerzu besteht die Gefahr, dass das Gesprochene als Zeichen ihrer ‚Krankheit‘, interpretiert wird. Besonders betrifft das ‚Krankheiten‘, wie ‚Schizophrenie‘, die nachwievor mit dem Mythos beladen sind, unberechenbar und unheilbar zu sein, und als ‚Inbegriff des Wahnsinns‘ zu gelten. Hören Menschen Stimmen, werden sie nach dem hegemonialen biomedizinischen Diskurs zumeist als ‚schizophren‘ diagnostiziert.

Das ‚Hearing Voices Movement‘, welches Ende der 80iger Jahre in Holland entstand, spricht im Zusammenhang von Menschen, die Stimmen hören, von sogenannten ‚StimmenhörerInnen‘. Dieser Diskurs betrachtet Stimmenhören nicht primär als pathologisch und fördert Empowerment- und Recoveryprozesse von ‚StimmenhörerInnen‘, damit diese ‚lernen‘ mit den (oftmals beeinträchtigenden) Stimmen umzugehen.

In dieser Arbeit habe ich narrative Selbstdarstellungen von Menschen, die Stimmen hören und von der Dominanzgesellschaft pathologisiert werden, analysiert. Besonders fokussierte ich mich dabei auf Menschen, die als ‚StimmenhörerInnen‘ im ‚Hearing Voices Movement‘ Öffentlichkeits- und Entstigmatisierungsarbeit leisten. Diese Menschen betrachte ich als besonders verwickelt und konfrontiert mit Pathologisierungs-, Normalitäts- und Empowermentdiskursen. Ich verorte sie in einem Spannungsverhältnis, einerseits als ‚Experten, bzw. ‚experts of experience‘ zum Stimmenhören (öffentlich) auftreten zu müssen, andererseits aber auch ständig mit normativen Erwartungen und Bezeichnungspraktiken hegemonialer pathologisierender Diskurse konfrontiert zu sein. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit richtet sich primär auf die subjektkonstituierende Wirkung von Diskursen, und wie sich die ‚angerufenen‘ Subjekte mit den Bezeichnungspraktiken von (hegemonialen) Diskursen artikulieren, d.h. ob sie die Anrufungen annehmen oder unterlaufen, auf welche Art und Weise sie in Subjektpositionen investieren und welche Identitäten sie sich konstruieren. Zunächst habe ich mir für die Analyse ein heuristisches Instrument und Interpretationshandwerkzeug erarbeitet. Ich verknüpfte die Diskurstheorie Foucaults, mit einer kulturwissenschaftlich geprägten Subjekttheorie, mit dem Verweis auf Michel Foucault, Judith Butler und Stuart Hall. Schließlich widmete ich mich auch noch der Elaborierung einer kritisch-reflexiven Biographieforschung und verschränkte die Diskurs- und Subjekttheorie mit dem Biographiekonzept.

Die Analyse der zwei narrativen Interviews dokumentierte die Relevanz von normativen Erwartungshaltungen des hegemonialen Diskurses zum Stimmenhören. Meine InterviewpartnerInnen sind dem ständigen Legitimierungsdruck ausgesetzt waren, zu begründen, dass sie nicht ‚schizophren‘ sind. Um als ExpertInnen anerkannt zu werden, lehnen meine InterviewpartnerInnen die Praktiken des hegemonialen Diskurses sehr stark ab (z.B. Medikamenteneinahme) und investieren somit nicht in die Subjektposition ‚psychiatrische/r Patient/in‘ des hegemonialen Diskurses zum Stimmenhören. Die Subjektposition ‚StimmenhörerIn‘ stellt zwar innerhalb des ‚Hearing Voices Movement‘ eine intelligibile Subjektpositon dar, von der Dominanzgesellschaft werden die Aussagen sogenannter ‚StimmenhörerInnen‘ jedoch noch immer als Zeichen ihrer ‚Krankheit‘ interpretiert. Ambivalent ist, dass meine InterviewpartnerInnen, um gehört zu werden und eine kohärente Selbstdarstellung konstruieren zu können, auf einer latenten Art und Weise den hegemonialen Diskurs reproduzieren, indem sie Bezeichnungspraktiken desselben verwenden, z.B. werden bestimmte Lebensphasen im Nachhinein mit psychiatrisch-psychologischen Termini kategorisiert, weil das damalige Verhalten nicht anders erklärt werden kann. Ferner zeigt sich in der Selbstdarstellung eines ‚empowerten‘, ‚therapierten‘, ‚recoverten‘ Selbst die Ambivalenz, dass man den hegemonialen Diskurs reproduziert, indem man sich in seiner ‚Geschichte‘ von einem ‚leidenden und kranken‘ vergangenen Selbst abgrenzen muss (Illouz, 2009).