Stefanie Miethe (2016). Psychologischer Diskurs im Medium Comic – eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung.
Comics überwinden durch die charakteristische Wechselwirkung von Schrift und Bild die medialen Grenzen und stellen die immer wieder beschworene Dichotomie zwischen Text und Bild in Frage. Aus diesem Zusammenspiel erwächst eine Ausdruckskraft, die einen Teil ihrer Einzigartigkeit und Faszination ausmacht. Die wachsende Popularität der Graphic Novel in letzter Zeit führte zu einer größeren thematischen Breite. So widmen sich Comics vermehrt auch psychologischen Inhalten, beispielsweise in autobiografischer Form.
Die Arbeit untersucht anhand ausgewählter Comics exemplarisch die Schnittstellen zwischen dem Medium Comic und dem Diskurs zu psychischen Erkrankungen sowie zur Psychoanalyse. Im Mittelpunkt stehen die Fragen danach wie das popkulturelle Medium an diskursiv erschaffenen Realitäten psychologischen Wissens beziehungsweise psychologischer Praxis mitbaut, ob es psychologischen Diskurs in Frage stellt, bestätigt oder kontrastiert und welchen Bedingungen psychologischer Diskurs im Comic, etwa durch formale Spezifika des Mediums, unterworfen ist.
Comics tragen psychologischen Diskurs in vielgestaltiger Weise in sich. Das Zusammenspiel von Text und Bild emöglicht die Veranschaulichung komplexer Sachverhalte, etwa der psychoanalytischen Therapie. Comics verkürzen und verdichten psychologische Inhalte aber auch – und sie emotionalisieren diese. Daneben unterwerfen Comics psychoanalytisches Wissen beziehungsweise psychoanalytische Technik einer Transformation durch Simulation. Das breite Spektum der Ausdrucksmöglichkeiten von Comics erlaubt die Darstellung vielschichtiger Innenwelten wie auch der Realität und des Erlebens von psychischen Erkrankungen. Dabei verlangen das Medium und der psychologische Diskurs einander etwas ab, drücken sich gegenseitig ihren Stempel auf. Vor allem aber verlangen Comics ihren Leser_innen etwas ab. Diese sind entscheidend an der Konstruktion der Erzählung beteiligt. Sie werden in diesem Prozess der Imagination gleichsam zu Analytiker_innen.
Detailliertere inhaltliche Beschreibung
Dass die kulturelle Verständigung, das ‚gesellschaftliche Wissen‘ über psychologische und psychotherapeutische Themen medial vermittelt ist und dass in dieser Vermittlung populärkulturelle Formen oft entscheidender sind als jene, die die akademische Psychologie hervorbringt, ist für letztere zumeist ein Ärgernis. Dass dabei ausgerechnet dem lange als Teil der trash culture geltenden Comic Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, ist daher ein gleichermaßen exzentrischer wie vielversprechender Forschungsfokus, den Stefanie Miethe in der hier vorgelegten Arbeit setzt. Dazu fasst sie zunächst die wesentlichsten bisher vorliegenden erzähl- und medientheoretischen Sondierungen zum Comic zusammen, um die besonderen ästhetischen Möglichkeiten sichtbar zu machen, die sich aus der für den Comic so charakteristischen Verschränkung von Bild und Text ergeben. Diese sehr informativ geschriebene theoretische Annäherung zeigt, dass die Autorin das noch recht junge, interdisziplinäre Feld der Comicforschung überblickt und daraus entscheidende Sensibilisierungen für ihre eigene Analyse gewinnt.
Ziel ihrer Arbeit ist es, anhand ausgewählter Comics exemplarisch dem Psychologie-Diskurs im Medium Comic auf die Spur zu kommen, z.B. zu fragen, welche psychologischen Diskurse Comics bevorzugt aufnehmen und reflektieren, in welcher Weise sie das tun, welche Rolle dabei comicspezifische Darstellungskonventionen spielen und ob Interdependenzen zwischen dem Medium und dem darin sich entfaltenden Diskurs bzw. Viskurs bestehen. Daraus ergibt sich als Prämisse, dass die Untersuchung das Formale und das Inhaltliche, das Wie und das Was der Darstellung, immer zusammendenken und so herausarbeiten will, welche Bedeutung der spezifischen Sprache des Mediums für die Auseinandersetzung mit psychologischem Diskurs zukommt und inwiefern das strukturelle Instrumentarium des Comics psychologischen Diskurs herausfordern kann.
Dass sich ein so gelagertes Erkenntnisinteresse realisieren lässt, liegt nicht zuletzt an der Konjunktur, die sogenannte Graphic Novels, also Langformen des Comic, in den letzten Jahren bekommen haben; denn erst in dieser Form lassen sich jene komplexeren psychologischen Inhalte entfalten, für die sich die Autorin interessiert. Das dann im einzelnen analysierte Material stellt, wie Stefanie Miethe einräumt, eine Art Ad-hoc-Selektion vor dem Hintergrund ihrer eigenen Leseerfahrung dar – ein auf kulturwissenschaftlichem Feld nicht ungewöhnliches Vorgehen, das zwei große Diskursfelder in den Vordergrund rückt, die auch die beiden Hauptabschnitte des Analyseteils bilden: autobiografische Auseinandersetzungen mit psychischen Erkrankungen und psychoanalytische Fallstudien.
Grundlage für erstere sind die Comics Marbles von Ellen Forney (eine autobiographische Auseinandersetzung mit der eigenen bipolare Störung), My Mom was a Schizophrenic von Chester Brown und Psychiatric Tales von Darryl Cunningham. Die Analyse des Diskurses zur Psychoanalyse als Theorie und Behandlungsform erfolgt auf Basis der Comics The Wolf Man von Richard Appignanesi und Sława Harasymowicz, Freud von Corinne Maier und Anne Simon, weiters Chris Wares` Jimmy Corrigan. The Smartest Kid On Earth und Alison Bechdels Are You my Mother?
Diese sieben Comics werden in einzelnen Kapiteln zunächst voneinander isoliert vorgestellt und interpretiert. Das grundsätzliche Darstellungsproblem der Arbeit liegt dabei darin, dass es zur Beantwortung des Erkenntnisinteresses zunächst unumgänglich ist, die einzelnen Comics sowohl nachzuerzählen als auch die in darin verarbeiteten Inhalte historisch und theoretisch in gewissem Ausmaß (her)einzuholen, also den Comic zu überschreiten. Dadurch wird die Darstellung der einzelnen Comics recht umfangreich – und ist dennoch in Unkenntnis der dem Text zu Recht nicht in Originallänge beigefügten Comics nicht ganz eigenständig lesbar (insofern sich Bilder bekanntlich nur unter großen Verlusten und Verkürzungen in Text übertragen lassen). Die Autorin weiß um das Problem und an Stellen, an denen es ihr besonders notwendig erscheint, illustrieren einzelne Abbildungen aus den Comics die Analyse – wirklich entschärft wird es dadurch aber nicht.
Das Erkenntnisinteresse – also die Frage, wie das Medium Comic psychologischen Diskurs aufgreift, welche Spezifika des Mediums dabei wirksam werden – geht bei diesen Nacherzählungen bzw. theoretisch-historischen Ausholbewegungen also stellenweise etwas verloren, wenn auch nie ganz. Mit einer Synopsis zu den eingesetzten stilistischen Mitteln steuert die Autorin auch hier an einer Stelle gegen. In den Zusammenfassungen der drei bzw. vier Einzelanalysen der beiden Hauptabschnitte (d.h. zu den autobiographischen Darstellungen und zur Psychoanalyse) wird dann vielleicht auch zu wenig Wert auf eine Komparation der stilistischen Mittel gelegt.
In Bezug auf ihr Erkenntnisinteresse konstatiert die Autorin, dass weniger medienspezifische Darstellungsweisen den Diskurs über psychische Erkrankungen im Comic beeinflussen, sondern dass vielmehr die psychologischen Inhalte sich auf die Wahl der eingesetzten stilistischen Mittel auswirken. Der Stoff fordert offenbar eher das Medium heraus als umgekehrt, dies vor allem in Forneys Marbles, bei dem die Komplexität der bipolar affektiven Störung und ihre Auswirkungen auf das Erleben der Heldin die Autorin/Zeichnerin zu einer Vielzahl stilistischer Mittel greifen lassen, die weit über die klassische Panelfolge, Sprechblasen und Blocktexte hinausreichen. Der komplexen Bilderwelt des Comics gelingt es so ganz spielerisch, psychische Erkrankungen zu einer eingängigen Darstellung zu bringen, welche die Komplexität von deren Darstellung in klinischen Lehrbüchern keineswegs unterbietet. Im Gegensatz zu letzteren sind darin – dies zeigt sich insbesondere in My Mom was a Schizophrenic von Chester Brown – auch anti-psychiatrische bzw. psychologie-, psychiatrie- und kulturkritische Diskurse sehr präsent.
Besonders stark reagiert das Medium auch in Sława Harasymowicz‘ Fassung von Freuds klassischer Studie über den Wolfsmann, bei der sie v.a. die psychoanalytische Grundregel der freien Assoziation zeichnerisch umsetzt: Alle Erinnerungen, Phantasien, Träume des Wolfsmanns während seiner Sitzungen bei Freud werden ohne jene Rahmen dargestellt, die das Panel im Comic in aller Regel begrenzen. Durch starke Überlappungen der Ausschnitte entsteht ein Eindruck von Weichheit, Verschwommenheit und Unabgeschlossenheit. Die Situation der Analyse hingegen, die Szenen des Hier und Jetzt, sind in gerahmten Panels dargestellt, die nicht, wie häufig im Comic, von Hand gezeichnet, sondern gedruckt sind, was ihre abgrenzende Funktion noch mehr betont. Auf diese Weise ist eine Orientierung der Leser_innen in der komplexen Darstellung der Analyse und Lebensgeschichte des Wolfsmanns, seiner Innenwelt und der äußeren Geschehnisse erleichtert. Besonders eindrucksvoll ist, wie hinter den Versatzstücken des Wolfstraums die Urszene des Patienten im Comic auftaucht. Harasymowicz gruppiert dazu überlappend Ausschnitte der Zeichnungen des Wolfstraums mit solchen, welche die Urszene darstellen, um einen Ausschnitt des Gesichts des Wolfmanness, in dem sich das Erstaunen der Erkenntnis widerspiegelt. Durch diese Technik wird im Comic die stückweise Erschließung des manifesten Trauminhalts durch dessen Verknüpfung mit realen beziehungsweise phantasierten Erinnerungen verdeutlicht. Jedenfalls erfährt die von Freud als Aus der Geschichte einer infantilen Neurose publizierte Fallstudie auf diese Weise im Comic eine Bereicherung um die Perspektive ihres Protagonisten.
Fazit: die Arbeit ist theoretisch inspiriert und klar strukturiert, das Erkenntnisinteresse ist gut ausgearbeitet und wird auch eingelöst. Anhand von sieben ausführlich aufbereiteten Einzelfällen gelingt es der Autorin eindrücklich zu demonstrieren, wie und in welch hohem Maß das Medium Comic komplexe Lebensgeschichten, gedankliche oder theoretische Parallelwelten, Träume und Verdrängtes, ‚Subjektives‘ und ‚Objektives‘, Innen und Außen simultan in ein- und dem/derselben Bild bzw. Bilderfolge veranschaulichen undso psychologische bzw. psychoanalytische Inhalte transportieren kann, dies insbesondere hin zu einem Publikum, das Bücher aus diesen Genres vielleicht gar nicht zur Hand nehmen würde. Die innere Entsprechung von freier Assoziation und den Möglichkeiten des Comic wird am deutlichsten in Chris Ware‘s Jimmy Corrigan, in der der Autor/Zeichner dem Bewusstseinsstrom des Protagonisten in einer Weise abbildet, die ein nur textgestützte Narrativ vollkommen überfordern würde.
Die Autorin beschreitet in einem wenig entwickelten Feld jedenfalls beherzt Neuland, es ist ihr zu wünschen, dass sie ihr innovatives Forschungsinteresse weiterführen, insbesondere die komparativen Schritte weiter ausführen und ggf. noch mit avancierten sozialwissenschaftlichen Methoden der Bildanalyse anreichen kann, die sich in diesem Text erst andeuten.