Philipp Roidinger (2015) „Improvising feelings - the feeling improviser“. Musikalisches Improvisieren: Eine generische Einheit von Handlung, Gestalt und Wirkung.

In dieser kognitionstheoretischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Improvisieren werden Aspekte der prozessualen musikalischen Gestaltung (der „Erzeugung“) sowie der Expertise (der „Erzeugungskompetenz“) erforscht. Einen Schwerpunkt bildet die Untersuchung eines "embodied knowledge" in Bezug auf Kompetenzen, Kompetenzaneignung und generierende Arbeitsweisen. Es wird detailliert herausgearbeitet, wie dieses aufgebaut werden kann und wie Experten auf Basis von "soft-assembled-structures" expressiv fein-artikuliert und situativ selbstanpassend improvisieren können. Hervorgehoben wird die Bedeutung einer individuellen „Wahrnehmungs- und Erlebnisebene“ für das musikalische Improvisieren. Diesbezüglich wird dargestellt, dass eine individuell konstruierte Affektebene wesentlich in die Erarbeitung einer Expertise und auch in den Improvisationsprozess eingebunden ist und dass ein musikalisch affizierendes Wirkprinzip gleichermaßen ein Wahrnehmungsprinzip, gestalterisches Konstruktionsprinzip, Evaluationsprinzip, Kommunikationsprinzip und Motivationsprinzip beim musikalischen Improvisieren darstellt. Anzumerken ist, dass die Forschung der musikalischen Affizierbarkeit eine fundamentale und transkulturelle Bedeutung für die menschliche Beschäftigung mit Musik zwar beimisst, dieser nur im Zusammenhang mit dem musikalischen Improvisieren bis dato wenig Beachtung geschenkt hat. Diese musikalische Affizierbarkeit wird hier als essentielle Variable in der „generativen Steuerinstanz“ des Improvisierens aufbereitet. Ein Modell soll zeigen, dass musikalische Affizierungen von einem Improvisator nicht nur gezielt erzeugbar sind, sondern dass die echtzeitlich generierten musikalischen Erzeugnisse affektregulierend wirken und dadurch den Erzeugungsprozess wesentlich beeinflussen können. Improvisatoren versuchen demnach adäquat, innere (und durch Übertragung auch fremde) Erlebniszustände in Echtzeit musikalisch hervorzurufen und zu modifizieren. Es wird dargelegt, dass ein wichtiger Teil der Faszination am Improvisieren – und mitunter hohen intrinsischen Übemotivation – auf die potentiell intensiv und als lohnenswert erlebbare musikalische Affektregulierung rückführbar sein könnte. Insgesamt soll diese Arbeit neue Impulse für (empirische) Auseinandersetzungen mit dem musikalischen Improvisieren bieten, welche näher an den mentalen und affektiven Wahrnehmungsqualitäten ansetzen. Darüber hinaus können didaktische Impulse für die Improvisationspädagogik abgeleitet werden.

 

Detaillierte inhaltliche Beschreibung

Die von Dr. Michael Kimmel mitbetreute Arbeit setzt sich mit musikalischen Improvisations­fertigkeiten insbesondere im Bereich Jazz aus einer innovativen und mit eigener Expertise hoch angereicherten Sicht auseinander. Umgesetzt wird dazu zunächst eine äußerst umfang­reiche Literaturrecherche, die zu einem gut gegliederten, repräsentativen und an aktuellen Beiträgen orientierten Gesamtbild ange­ordnet wird. Der Bogen spannt sich dabei von psycho­physikalischen Modellen zur musi­kalischen Gestaltbildung bis hin zur Forschung zu improvisatorischer Expertise in der Musikologie. Die subjektive Faszination der Improvisation wird in diesem Überblick ebenso deutlich wie deren Herausforderungen, mit denen sich der Autor aus kognitions­wissen­schaft­licher Perspektive auseinandersetzt.

In den ersten beiden Abschnitten werden aber auch Schwachpunkte des Forschungsstandes herausarbeitet, wie beispielsweise die Orientierung von formalisierenden Ansätzen am ‚ein­fachen‘ Jazz-Subgenre Bebop, die zu Überverallgemeinerungen in der Modellbildung geführt hat. Ausgehend von dieser Kritik wird sehr klar, warum im Weiteren ein komplexerer Ansatz, der in den letzten beiden Hauptabschnitten der Arbeit präsentiert wird, vonnöten ist. Dort wird ein hochdifferenzierter Begriffsapparat entwickelt, mit dem Herr Roidinger die musikalische Produktionskompetenz in Echtzeit, wie sie jegliche Improvisation auf diesem Feld grundlegend definiert, absteckt  und dabei systemisch an die Sache herangeht: Die Produktions­kompetenz beinhaltet ein System einer „Wissensbasis“ von Strukturen unterschiedlicher Abstraktion, die auf vielfältigen kognitiven und motorkognitiven Ebenen angesiedelt ist. Die Bezüge innerhalb dieses multidimensionalen Kompetenzsystems bilden die ‚roten Fäden‘ in Herrn Roidingers Darstellung, dem es so gelingt, auch einem nicht näher Musikkundigen die Einzelelemente zu vermitteln. Deutlich wird dabei jedenfalls, warum es Jahrzehnte benötigt, auf hohem Niveau zu improvisieren. Herr Roidinger baut hier vielfach auf bestehenden Arbeiten, etwa jenen Jeff Pressings, auf, bietet aber, wo nötig, auch seine eigenständigen Konzepte in Ergänzung dazu an, um mit der Multidimensionalität und dem Netzwerkcharakter des Systems angemessen umzugehen.

Eine weitere Stärke der Arbeit liegt in einer Leistung, die wohl überhaupt nur aus subjektiver Ex­pertensicht zu erbringen ist, nämlich einer höchst detail- und facettenreichen Diskussion eines Kernthemas  der Improvisationsforschung – dem Aufbau eines Repertoires, der (teil­weisen) Automatisierung bestimmter untergeordneter Abläufe (z.B. Griffvarianten an der Klavier-Tastatur) und der nach und nach wachsenden Flexibilisierung, multiplen Verknüpfbarkeit und Abstrahierbarkeit der Elemente auf neue Situationen hin. Hier bringt die Arbeit Einsichten, die man in dem Detailgrad und ähnlicher qualitativer Differenziertheit zuvor meines Wissens nirgendwo gesehen hat – ein hochgradig eigenständige Forschungsleistung. 

Das Schwergewicht liegt also auf der konzisen Entwicklung eines Theorierahmens, der aber, wo nötig, immer wieder mit anschaulichen Musikanalysen unterfüttert wird. Dem Leser wird gut nachvollziehbar, wie im Laufe des Erlernens von Jazz mittels einer Abfolge von De- und Rekonstruktionsprozessen Ähnlichkeiten immer höherer Ordnung gebildet und zu einem komplexen Netzwerk mit hoher Flexibilität und fast unerschöpflichem Variationsreichtum ausgebaut werden.

Daneben stellt Herr Roidinger, dabei auf den Stand der Forschung aufbauend, ein Thema ins Zentrum seiner Überlegungen, das bisher in der Improvisationsforschung wenig oder (zumin­dest unter diesen Vorzeichen) gar nicht behandelt wurde: die Frage, woher die Wirkintention eines Solisten kommt und wie eine einmal gefasste Wirkintention mit Repertoires und anderem musikalischen Wissen abgeglichen wird, um zur Umsetzung zu gelangen. Der Autor stellt eine eigenständig entwickelte und höchst relevante Hypothese zur Debatte, die auf Embodiment­ansätze und auf die Emotionsforschung zurückgreift (u.a. auf dynamical affective science und den enaktiven Affektansatz vom Giovanna Colombetti). Der grundlegende Gedanke ist dabei, dass affektive bzw. emotive Wirkabsichten die Echtzeitwahl von Impro­visations­material funda­men­tal anleiten. Dies hieße, dass die beabsichtigte aufheiternde, traurige, nüchterne, unheim­liche, „böse“, kitschige, innehaltende, belebende etc. Wirkung auf das Publikum sowie auch auf den Musiker selbst einen Hauptantrieb bilden. Improvisation wird damit zur Affekt­regulierung. Diese teilweise De-intellektualisierung von Musikgenese ist zeit­gemäß und gut begründet. Plausibel ist die Hypothese unter anderem im Licht aktueller kognitions­wissenschaftlichen Erkenntnisse über die verkörperte Natur von Musikproduktion und -rezeption und evolutionärer Forschung zu den verkörperten Grundlagen menschlicher Musik. 

Eine weitere Stärke der Arbeit liegt darin, zu veranschaulichen, wie diese Wirkungen nie ab­solut, sondern in ein hierarchisches Geflecht eingebettet sind. Mikroeffekte sind jeweils als Relation zu Meso- und Makroeffekten zu verstehen, wobei die Ebenen emergent in- und miteinander ‚gewoben‘ werden, also in ständiger dynamischer Abstimmung miteinander sind. Dieses komplexe Verhältnis unterschiedlicher Zeitebenen und die dynamischen Wechsel­wirkungen, die ein/e Improvisierende/r parallel im Blick behält, ist u.a. einer der Gründe, warum improvisatorisches Geschehen üblicherweise so schwer auf den Begriff zu bringen ist. Da gibt es beispielsweise in der Praxis von Improvisierenden Reparaturhandlungen die – oft unbemerkt für andere – einen kleinen Fehlgriff im Sinne der entstehenden Gesamtstruktur so umdefinieren, dass alles zusammen wieder Sinn ergibt. Viele vergleichbare Mechanismen der Produktionskompetenz werden diskutiert und zum Nutzen des Lesers inventarisiert.

Eine damit verwandtes Verdienst der Arbeit ist es, modellhaft aufzuschlüsseln, wie die affektive Ebene der Genese dynamisch in Passung gebracht wird mit den vielfältigen anderen Aspekten des Kompetenzsystems eines/r Improvisierenden, insbesondere mit den musi­kalischen Strukturelementen (Herr Roidinger nennt sie Gestalten) und der für deren Hervor­bringen notwendigen motorischen Substruktur. Es geht u.a. um die Frage, welche Gestalt im emergenten musikalischen Geflecht wann welche Wirkung haben kann. Philipp Roidinger entwickelt hier ein Modell, in dem einerseits bestimmte affektive Besetzungen von bestimmten Gestalten Platz haben, das jedoch um den Faktor Kontextsensibilität erweitert wird. Damit wird deutlich, warum keine regelhaften Eins-zu-Eins Beziehungen der Subsysteme des Kompetenzsystems postulierbar sind, sondern komplexe Netzwerkaktivierung jeweils situiert herausgebildet werden. Der Autor greift dazu – dem Gegenstand sehr angemessen – auf dynamische Modelle der Kognitions- und Motorikforschung zurück, die nicht immer von zentraler und planhafter Steuerung, sondern von einer kontextsensiblen ‚soft-assembly“ aus Teilsystemen ausgehen (z.B. nach Scott Kelso) und Elemente untergeordneter Selbst­organisation beinhalten. Gleichzeitig betont die vorliegende Arbeit, dass es sowohl fixere als auch flexiblere bzw. mehr oder weniger bewusst reflektierte Produktionsmodi gibt, die quasi metakognitiv, je nach Situation und Stimmungslage, eingestellt werden können. 

Insgesamt entsteht ein Begriffsrahmen, in dem der Zusammenhang von musikalisch-psychophysischen Universalien und spezifischen (kultur-)kontextualisierten Abwandlungen berührt, wenn auch nicht erschöpfend thematisiert wird, da dies nicht die Hauptstoßrichtung darstellt. Erschöpfend wird aber der Bogen von motorischen Erzeugungsmitteln, konzeptualisierten Musikgestalten und im Kontext damit assoziierbaren Affekten entworfen, sodass sich letztlich ein überzeugendes theoretisches Gesamtmodell der Schlüsselentitäten im Feld der musikalischen Solo-Improvisation ergibt.

Die Methodik der Arbeit ist einerseits autophänomenologisch. Grundlage dafür ist eine struk­turierte, teils auch stark von entscheidenden Theoriefragen geleitete, kontinuierliche Selbst­beobachtung im Tun als Jazz-Pianist und als -Lehrender, den Hauptberufen des Autors. Daneben stützt sich die Arbeit auch auf Beobachtungen der Praxis vieler Musiker sowie jahrelange Gespräche mit anderen Musikern im Feld. Dabei fließen für die Jazzdidaktik prototypische Herausforderungen als Schlüsselbeispiele ein, also für Jazz typische Erfahrungen mit charakteristischen Schwierigkeiten, denen der Autor selbst früher begegnet ist und die sich nun bei seinen Schülern wieder einstellen. Zwar ist das Schöpfen aus Selbstbeobachtung nicht eingebettet in eine systematische empirische Erhebung, aber im Rahmen einer Masterarbeit ist der Zugang angesichts der exzellenten Theoriebasis und Verwebung mit derselben mehr als ausreichend. Längere und ausführlicher diskutierte Vignetten wären zwar sicherlich dienlich gewesen, aber es ist nachzuvollziehen, warum sich der Autor bei einer Arbeit dieses großen Umfangs zu Gunsten knapper und prägnanter Beispiele entschieden hat.

Sehr dienlich sind jedenfalls die vielfachen musikalischen Beispiele, die eine laiengerechte Bezugnahme auch für Nichtmusiker ermöglichen. Überhaupt ist auch die theoretische Argumentation zumeist mit guten Veranschaulichungen durchwoben. Aber auch für das engere Musikerpublikum ist die Lektüre der Arbeit sehr zu empfehlen. Wenn dies auch kein Hauptfokus ist, legt die Arbeit doch bestimmte didaktische Optionen für den Umgang mit Struktur und Flexibilität innerhalb des Kompetenzsystems Jazz nahe.

Weiterführende Forschung entlang der hier gezogenen Linien könnte die Datenbasis breiter und systematischer werden lassen, qualitative Analysemethoden aus den oben genannten Bereichen hinzuziehen, gegebenenfalls auch einen experimentellen Gegenpart zum subjektiven Blickwinkel. Das hier entwickelte Modell könnte an exakten Einzelanalysen oder Vergleichen von Improvisationen herausgefordert und vertieft werden. Interessant könnte z.B. sein, bestimmte affektive Effekttypen zu operationalisieren oder auch abzubilden, wie eher kognitive und eher affektive Triebfedern der Improvisation gewichtet werden. Interessant wäre ebenfalls die Frage, ob die Affektregulierung systemwissenschaftlich so etwas wie ein übergeordneter Kontrollparameter sein könnte und wenn ja, wie man dies nachweisen könnte. Die Fundierung eines Modells, das die Echtzeit-Improvisation als komplex verwobenes, situativ abzustimmendes System von Kompetenzen durch den Vergleich konkreter Dynamiktypen im Improvisieren empirisch abbildet, wäre dabei das zentrale Anliegen – ein zugegeben äußerst anspruchsvolles Vorhaben, für das Philipp Roidinger auf Grund seiner Doppelkompetenz als Praktiker und Systemdenker allerdings ideal positioniert ist. Zudem könnte ein Folgevorhaben natürlich auch die didaktischen Implikationen des Modells ausarbeiten und dies mit anderen modellbasierten musikpädagogischen Zugängen zu Improvisation kontrastieren. Auch ließe sich das Modell auf Improvisation im Ensemble ausweiten –­ wobei es forschungsstrategisch geschickter sein dürfte, zunächst das Solomodell zu vertiefen und mit empirischen Material anzureichern, bevor man es weiter (an)spannt, d.h. um den Faktor ‚Ensemble‘ komplexer macht, der ev. dann einige Vorzeichen wieder umpolt.